Jeremias Thiel hatte nie die Kindheit, die er sich gewünscht hat. Im einstelligen Alter kümmert er sich um seinen Zwillingsbruder und oft genug sogar um seine Eltern. Mit 11 bricht er quasi von zuhause aus, stellt sich in die Obhut der Jugendhilfe. Ab diesem Zeitpunkt ändert sich sein Leben radikal. In seinem Buch “Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance” beschreibt er seinen Lebensweg bis dato eingehend, ist auch Talkgast in verschiedenen TV-Sendungen. Im Meminto Stories Podcast spricht er darüber, wie er die Zeit empfunden hat und was er jetzt in den USA macht.
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Weitere InformationenAlbert: Herzlich willkommen bei Meminto Stories – Geschichten schreibt das Leben. Und heut habe ich den Jeremias Thiel bei mir. Nicht bei mir, er sitzt gute 8 000 Kilometer weit weg von mir. Wir sind in einer komplett anderen Zeitzone, aber er hat sich die Zeit genommen und mit mir, um mit mir einfach auch mal über sein Leben zu sprechen. Über ein Leben, das schon relativ bewegt war. Jeremias, erzähl uns doch ganz kurz, was dir passiert ist.
Jeremias: Ja, sehr gern. Erst einmal vielen lieben Dank, Albert, dass du mich eingeladen hast zu deinem Podcast. Es ist eine große Ehre, heute mit dir reden zu dürfen. Und ja, was ist mir passiert? Es ist sicherlich sehr viel in letzten Jahren, aber vor allem, was mir damals passiert ist, weshalb wir, glaub ich, auch heute zusammenkommen, war natürlich damals mein Weggang aus eigener Initiative von meiner Familie und mein Weg zum Jugendamt und vom Jugendamt dann schlussendlich ja in die Jugendhilfeeinrichtungen. In Kurz und werden natürlich ein bisschen darüber weiterreden, ehe ich dann in eine internationale Schule gelandet bin mit Vollstipendium. Jetzt bin ich ja hier in North Field in den USA und studiere Politikwissenschaften mit Fokus oder mit Spezialisierung Internationale Beziehungen. Und hab heute mit dir genau das große Erlebnis mit meiner, über meine Geschichte reden zu dürfen. Genau.
Albert: Super. Das heißt, du bist von zuhause weggegangen. Ich habe das ja auch in einigen Veröffentlichungen schon gesehen. Du warst ja auch bei SternTV. Du hast dein eigenes Buch geschrieben und kannst du mal genauer darauf eingehen? Welche Situation hattest du, als du Teenager warst?
Jeremias: Ja, genau. Also so angefangen, als ich elf Jahre alt war, war natürlich die Situation sehr prekär. Ich war zuhause bei meinen Eltern. Da muss man wissen, dass mein Vater chronisch depressiv ist. Schon seit, ja seit ich auf der Welt bin. Also hat mein Vater nie wirklich glücklich oder zufrieden gesehen oder das auch irgendwie gefühlt. Und mein Vater hatte damals also sehr viele Antidepressiva genommen. So kannte ich meinen Vater. Da war natürlich auch meine Mutter und die war häufig sehr, sehr impulsiv, in Teilen aggressiv. Nicht aus eigenem Verschulden, aber aufgrund ihres Aufwachsens, wovon ich stark ausgehe. Und naja, das hat natürlich insgesamt die gesamte Mentalität in der Familie sehr, sehr geprägt im Blick von, dass meinen Eltern überfordert waren, dass sie sich nicht wirklich so gut um uns kümmern konnten. Also mein Zwillingsbruder und mich. Die Tatsache, dass meine Mutter Glücksspiel süchtig war und dass wenig Geld zu Hause war. Man muss wissen, meine Eltern hatten auch nie gearbeitet. Das heißt, ich habe immer von Hartz IV gelebt, sprich in meinem Elternhaus war noch nie wirklich wirtschaftlich immer gut gesorgt und das merkt man natürlich. Und jetzt kommen wir zu dem Punkt, was damals passiert ist. Es war im Sommer früh Herbst 2012, da war meine Mutter häufig abgängig, bei Nachbarn unterwegs, Glücksspiel süchtig. Da hatte ich damals auch noch 50 Euro geben, was ich bekommen habe und dass sie eben da Essen einkaufen gehen kann, was sie nicht getan hat. Schlussendlich war sie das Geld verspielen. Ja und schlussendlich war es so ein bisschen Maxime sozusagen, dass meine Mutter, mein Bruder und mich eingesperrt hat in der Wohnung und dass wir da erst mal für Stunden saßen und mein Vater dann, bis er unsere Schreie in Anführungsstrichen gehört hat, aus dem Fenster heraus und dann von außen heraus die Tür aufgemacht hat. Und das war sicherlich eine sehr, sehr prägende Situation. Jetzt rede ich mit so einer gewissen Objektivität und mit so einer gewissen Neutralität. Aber man muss aber wissen, dass es damals insgesamt diese familiäre Situation, die Verantwortungsrolle, die ich als junger Mensch hatte, als Kümmerer der Familie zuzüglich natürlich der Verantwortung in der Schule, dass man dort irgendwie gut besteht und erfolgreich ist. Das war sicherlich eine sehr, sehr harte Situation, die mich in meinem Leben bis heute sehr prägt. Und in allem, was ich tue. Also ja, definitiv. Das ist mir passiert. Und ich bin noch immer meinen Eltern in Kontakt. Und es ist immer sehr, sehr erschüttert zu sehen, wie meine Eltern sich halt gehen lassen und dass da wenig Ambitionen sind und auch wenig Hoffnung. Also ich sage, ich sage nicht, dass man hoffnungsvoll sein muss. Bin großer Existenzialist. Der Philosophie, der ich folge und glaube, dass Hoffnung selbst schon irgendwie ja wie ein Käfig sein kann. Aber meine Eltern hatten halt jeglichen vielleicht Lebenssinn verloren und das ist schon sehr, sehr deprimierend, denke ich. Das kann man schon so sagen.
Albert: Das heißt, du hattest das dann, praktisch diese Verantwortungsrolle schon in relativ frühen Jahren übernommen.
Jeremias: Korrekt.
Albert: Wann hast du dich entschieden? Jetzt ist genug. Ich muss raus hier.
Jeremias: Das war tatsächlich in der Situation, die ich zuvor beschrieben habe. Also die Situation, als ich in der Wohnung festsaß mit meinem Zwillingsbruder, der zu dem Zeitpunkt zwar schon in einer Einrichtung gelebt hat, aber einen Fahrradunfall hatte und aufgrund der Tatsache deswegen zuhause war. Naja, aber da habe ich gemerkt: Okay, für mich ist, glaube ich, jetzt hier echt irgendwo ein Punkt erreicht, der mich nicht dazu befähigt, das mal im Leben zu tun, was ich unbedingt mal machen will. Das war mir irgendwie sehr früh klar, dass mein Hintergrund mir das nicht bieten kann und dass nicht wie gesagt verschulden meiner Eltern ist. Wir müssen immer im Kopf behalten, meine Eltern sind auch nur schlussendlich Produkte ihrer Erfahrungen, die sie in Teilen natürlich auch an uns weitergegeben haben. Und naja, aus diesem Hintergrundwissen heraus bin ich am nächsten Morgen. Das war der 11. September 2012 bin ich zum Jugendamt gemeinsam mit meinem Bruder gegangen und habe meinem Sozialarbeiter, wo schon zuvor Kontakt bestand. Ich war in der Tagesgruppe für drei Jahre. Aber habe ihm so ein bisschen die Situation erklärt und beschrieben, was los ist. Und da hat er natürlich sofort gewusst: Okay, so ist die Situation. Jetzt müssen wir handeln. Was passierte schlussendlich war, das muss man sich jetzt einfach mal vorstellen für ein 11-jähriges Kind, dass a) noch die Eltern sehr sehr liebt und b) ist es irgendwie noch sehr abhängig von den Eltern. Ich bin also dann am gleichen Tag, hab mir paar Sachen zusammen gehauen mit dem Jugendamt und sind dann in die Einrichtung meines Bruders, die 40 km entfernt von meiner Heimatstadt, von meiner Schule etc. Und war dort für 4 Tage ich dann, 4 Tage später quasi ins SOS Kinderdorf Kaiserslautern gekommen bin und dort schlussendlich auch in der Obhutnahme war, aber wohl auch 5 Jahre meines Lebens verbringen würde, was natürlich zu dem Zeitpunkt alles andere als klar war. Ja, das war schon auch emotional. Ich werde auch nie vergessen, den Moment, als ich da im SOS Kinderdorf angekommen bin, im Vorraum saß. Die Betreuer sind in der großen Runde, evaluieren, wie die Woche war und wie die nächste Woche sein wird. Da komme ich als schüchternes kleines Kind noch zu dem Zeitpunkt, du sagtest ja einer deiner Kinder, ist ja selbst 11 Jahre alt. Musst dir mal vorstellen. Da bin ich dort und stehe dann halt vor irgendwie 20 Erwachsenen und wurde dann noch von Simone in den Arm genommen und ich habe dann einfach nur geweint. Ja und ich weine sehr selten, aber das war für mich schon echt überfordernd. Definitiv aber auch einer der schönsten Momente, die ich beim Leben nicht vergessen werde, weil ja, wie ich jetzt feststellen kann, mein Leben schlagartig verändert hat, mit dem, dass ich jetzt hier in den USA studiere und denke ich ein gutes Leben haben werde in der Zukunft.
Albert: Du sprichst es schon an, du sitzt gerade vor mir mit Hemd, einer dunkelblauen Krawatte und siehst absolut ja, ich sage gebildet, gebildet aus. Und du machst auch den Eindruck eines sehr verantwortungsbewussten und erwachsenen Menschen. Was ist denn passiert? Du sagtest, du warst fünf Jahre lang in der Jugendeinrichtung und dann warst du sechzehn.
Jeremias: Dann war ich 16 und ich vielleicht kurz mal kurz darauf eingehen, weil die Zeit in der Jugendhilfe, die prägt einen. Weil du bist da zum Teil mit jungen Jugendlichen zusammen, die Eltern haben, die Drogen nehmen, andere sind Halbwaise oder Vollwaise. Du hast Jugendliche dort, die klar von der Gesellschaft höchst stigmatisiert werden. Und es schon ein Teilen so eine Frustration in mir bewirkt, weil die Jugend die Jugendlichen, die in der Jugendhilfe sind, können ja selbst nichts für ihre Situation und werden trotz alledem noch immer von der Gesellschaft als asozial verurteilt. Und du kennst vielleicht selbst die Vorurteile rund um Heime, was ich eine ganz, ganz problematische Begrifflichkeit finde. Naja, aber was ist danach passiert nach fünf Jahren? Nachdem ich dort sehr geprägt wurde, mein humanistisches Verständnis der Gesellschaft ect., bin ich aufs UWC gekommen und auf United World College also internationalen Schule, die einen auf das IB vorbereitet, das internationale Baccalaureate, was kann man schon sagen ein Prestige Abschluss ist, einer der schwierigsten Hochschulzugang Abschlüsse. Und das tolle wiederum bei UWC ist, ist das so ein bisschen ihre Mission. Und die Mission ist sozusagen die, dass wir junge Menschen zusammenbringen wollen aus der ganzen Welt für den Frieden und für den Kampf für mehr Nachhaltigkeit. Aber vor allem geht es da um kulturelles Verständnis unter Völkern verschiedener Gruppen. Und in meinem Fall war das so, dass mein UWC, es gibt insgesamt 18 auf der Welt, da waren Leute aus 103 Nationen, 80 Prozent haben Vollstipendien. Das heißt, es war keine Schule, da, wo nur reich hingegangen ist. Natürlich gab es auch die, aber es war sehr sozial durchmischt und es war eine sehr, sehr prägende Erfahrung. Meine erste Freundin dort z.B. kam aus Indien und habe da sehr, sehr viel nicht nur über die Kultur gelernt, sondern auch viel über mich gelernt. Und ich glaube auch mein Toleranzverständnis war das erste Mal, dass ich zum Beispiel, dass ich Leute kennengelernt habe, die aus der LGBTQ Szene kommen und die mich erst einmal auch, wie soll ich sagen, die mir auch dabei geholfen haben, toleranter zu werden, weil für mich das jetzt erstmal sehr neu war. Und insgesamt war die, wie soll ich sagen die Zeit am UWC wahrscheinlich einer der schönsten in meinem Leben und einer der prägendsten. Ja, du musst dir vorstellen, ich habe jetzt Freunde, die studieren in Hongkong, in Kanada, in Europa, ganz viel in den USA. Und es ist ja Wahnsinn, dass man auch so weit.
Albert: Du hast ein internationales Netzwerk aufgebaut. Dadurch auch eben.
Jeremias: Genau. Ja, genau.
Albert: Und du sagtest mir vorher, du bist jetzt in den USA. Wo genau nochmal, wenn man das so einordnen müsste?
Jeremias: Genau. Ja, sehr gern. Also Minnesota kennt man vielleicht aufgrund der traurigen Botschaften mit George Floyd, Minneapolis. Ich lebe von Minneapolis aus 60 Kilometer weiter im Süden, in einer kleinen College Stadt North Field. Und es gibt hier zwei Prestige Colleges. Eins ist Carleton und dann halt eben auch St. Olaf College. Man muss wissen, es sind liberal arts schools, also wo man quasi so ein Studium generale neben einem Hauptfach, das man studiert, in meinem Fall Politikwissenschaft und das ist natürlich eine sehr, sehr tolles Studium, kleine Kurse, eine ausgezeichnete Uni, also im Sinne von den Gebäuden und man merkt einfach, die Uni ist ganz anders ausgestattet. Ich glaube, die Uni hat ein Stiftungsvermögen von 700 oder 800 Millionen Dollar. Du kannst dir also vorstellen, dass die Förderung hier aufgrund der Tatsache halt eine ganz andere ist. Und ich habe ein volles Stipendium, das, ich glaube, 270 000 Dollar abdeckt. Zur teuer ist ein Studium hier. Es ist völlig absurd, völlig absurd.
Albert: Krass. Okay, lass uns doch nochmal einen Schritt zurückgehen. Wie bist du denn bis zum 11. Lebensjahr aufgewachsen? Was war für dich Normalität? Was für andere, sag ich mal, in dieser Altersstufe absolut unnormal ist?
Jeremias: Ja, wo fange ich da am besten an. Für mich war Normalität, morgens früh aufzustehen und ein Frühstück für meinen Bruder vorzubereiten und mein Bruder zu besänftigen. Aufgrund der Tatsache, weil meine Mutter nicht mit der Situation umgehen konnte. Für mich war es normal, meinen Vater nie am Morgen wirklich wach zu sehen, sondern dass er schläft bis in die Puppen hinein, in Teilen sogar so lange, bis ich wieder von der Schule quasi zurückgekommen bin. Das war für mich normal. Für mich war damals auch normal, nicht häufig, das kam zwei oder dreimal vor, aber es war dann irgendwie schon normal, wie gesagt, die psychischen Krankheiten meiner Eltern. Meine Mutter in der Psychiatrie zu besuchen, werde ich auch nie im Leben vergessen. Da war ich, wie alt war ich da? Neun oder zehn Jahre alt? Da habe ich meine Mutter besucht und sah meine Mutter halt unter Beruhigungsmittel. Das war schon echt, ja schon ein traumatisches Erlebnis für ein junges, für ein junges Kind, das wünsch ich keinem Kind der Welt wirklich seine eigenen Eltern zu sehen. Oder jetzt in dem Fall die Mutter. Für mich war normal, dass wir auch häufig Toastbrot gegessen haben, dass das Essen immer sehr monoton war. Man muss jetzt einfach da nochmal kurz kontextspezifisch sagen, dass in der ALG2 Satzung 130 Euro oder 150 Euro oder vielleicht ein bisschen mehr als das, für Essen respektiert wird. Das heißt, ich war früher dick. Das war für mich normal. Für mich war normal, Geld von der Bank zu holen, weil mein Vater das nicht geschafft hat, Überweisungen zu übernehmen am Schalter, nicht bei den Personen, aber an den Bankautomaten Überweisungen zu übernehmen. Das war für mich normal. Schlussendlich in der parentifizierten Rolle zu sein, als in der Verantwortungsrolle zu sein, für die Eltern und quasi Eltern der eigenen Eltern zu sein. Wenn es Sinn macht, was ich sag.
Albert: Und wann hast du gemerkt, dass das nicht normal ist? Ich meine, irgendwann gehen einem die Augen auf und man sieht vielleicht andere Schulfreunde, die das nicht so machen, oder wie? Wie ist dir der Funke gekommen, hier stimmt was nicht?
Jeremias: Ich war in einer Grundschule, die sozial schon durchmischter war. Aber trotz alledem die Separation oder die Aufteilung fand natürlich immer nach der Schule statt. Und klar hatte man da schon Einblick in andere Lebenswelten bekommen, in funktionierende Familien, in funktionierende Strukturen. Und naja, das vergleicht man schon, wenn man jünger ist. Wie läuft’s in anderen Familien? Man sieht, die anderen haben ein Frühstück dabei, während man vielleicht nichts dabei hat zum Essen oder wenn dann nur sehr ungesundes Essen. Oder man mit einer Tüte Chips irgendwie in die Schule kommen oder dergleichen. Daran merkt man z.B., dass da irgendwie ein großer Teil von Fürsorge, die eigentlich bei den Eltern liegt. Ich will unbedingt auch mal selbst Kinder bekommen, aber die bei den Eltern liegt, dass die einfach fehlerhaft war. Sie waren nicht da. Und ich will da sagen, ich verurteile meine Eltern dafür nicht, weil sie dafür nichts konnten. Aber es war halt eben leider die Realität, die ich hatte, die mein Bruder auch zu tragen hatte. Und ja, man merkt halt eben aufgrund dieses Vergleichs, dass es dann doch irgendwo anders ist. Und trotz alledem ist der Sprung weg von der Familie ganz, ganz schwer, weil man liebt seine Eltern. Das ist ja so schwer. Erzähle einem 11-jährigen jährigen Kind, mach dein eigenes Ding und distanzier dich von deinen Eltern. Es ist insgesamt einfach sehr schwer und fast unmöglich, aber es benötigt schon viel Kraft.
Albert: Ja, ich meine, es ist auch total verwunderlich, sag ich mal, dass du so eine Art of Spring aus einem aus einer Familie kommst, die eigentlich von Intellektualität und von der Zielstrebigkeit sowas gar nicht hervorbringen hätte können. Und trotzdem ist das für mich eine Art Wunder, dass du jetzt da bist, wo du bist. Wow. Ja, das ist super verwunderlich, aber auch sehr sehr schön, dass du es auch geschafft hast. Weißt du, aus deiner eigenen Kraft vielleicht auch ja, oder? Ich weiß nicht, wer dir da geholfen hat. Wahrscheinlich auch diese Jugendeinrichtung, die dir einfach mit eine Stütze waren. Und ich denke, wärst du dortgeblieben und hättest du eine einigermaßen normale Familie gehabt, dann wärst du jetzt nicht dort, wo du heute bist.
Jeremias: Ich stimme dir total zu und finde es trotz alledem immer sehr, sehr deprimierend und es stimmt mich in Teilen auch hoffnungslos, weil was ich häufig erlebt habe, während ich natürlich irgendwie realisiere, dass meine Geschichte und auch mein Werdegang außergewöhnlich ist, weiß ich, dass die Tatsache, weil es außergewöhnlich ist, eigentlich ein Indiz dafür ist, dass Sozialpolitik in Deutschland ja irgendwo Fehler macht. Weil mein Weg sollte kein in Anführungsstrichen einzelnes Wunder bleiben, sondern vielleicht die Normalität. Nicht jeder muss natürlich in den USA studieren, beim besten Willen. Nicht jeder muss auf eine internationale Schule. Eine Ausbildung ist ebenso erstrebenswert wie ein Studium et cetera. Nichtsdestotrotz finde ich es schon irgendwie deprimierend zu wissen, dass meine Geschichte leider eine einzelne ist und keine, die die Regel quasi ist. Weil ja Leute aus oder Menschen, die aus meinem Hintergrund kommen, verdienen eigentlich die gleichen Chancen. Und ich mein in einer meritokratischen Gesellschaft also in einer Gesellschaft, die darauf basiert, dass die, die am besten qualifiziert sind, auch gesellschaftlich anerkannt sind. Ja, das ist halt leider nicht die Realität für viele, viele junge Menschen. Für insgesamt, wie viele ganz kurz. 20%, also jedes fünfte Kind in Deutschland. In Deutschland leben 15 bis 17, 15 oder 16 Millionen Kinder. Davon sind ein Fünftel benachteiligt aufgrund ihrer Armutserfahrung. Und das ist schon deprimierend.
Albert: Ja okay, du hattest gerade auch schon angesprochen, dass du dir wünschst, auch selber mal Kinder zu haben.
Jeremias: Ja, definitiv.
Albert: Was würdest du anders machen als oder wie möchtest du in der Erziehung aus den Punkten, die du selbst mitbekommen hast, was möchtest du deinen Kindern einmal mitgeben?
Jeremias: Ich, das aller Allerwichtigste ist und ich glaube, das ist für mich so ziemlich am allerwichtigsten mal als Elternteil ist, das meine Kinder die Möglichkeit haben sich zu entfalten. Und ich meine, natürlich ist es wichtig, dass sie vielleicht manchmal so eine gewisse moralische Führung bekomme in Anführungsstrichen. Aber schlussendlich geht es darum, dass sie, dass meine Kinder so ihren eigenen Kompass entwickeln für die Welt und wie sie die Welt wahrnehmen. Also das ist mir sehr wichtig, freie Entfaltung und die Entfaltung dieser Kinder zu fördern. In welche Richtung es auch immer gehen mag, das ist mir ganz, ganz wichtig. Vielleicht zu zweiten eben auch die Ressourcen anzubieten, die ich vielleicht damals nicht im Leben hatte. Also wenn mein Kind Gitarre spielen will, dann soll es doch bitte Gitarre spielen lernen, wenn es dann mein Kind will. Ich glaube, das ist mir sehr, sehr wichtig und auch vielleicht am allerwichtigsten, soziales Bewusstsein trotz alledem zu schaffen, was es bedeutet, so aufzuwachsen. Also nicht zu sagen: Oh, du bist schuldig, weil du so aufwächst, mein Kind. Sondern eher so nicht viele Menschen haben vielleicht das Privileg, so aufzuwachsen, wie du es tust und dass man einfach so eine gewisse soziale Sensibilität entwickelt. Denn ich glaube, man sollte es nicht nur in diesem, in diesem Unbewusstsein steckenbleiben, dass das Leben, was man so führt, dass das die Norm ist, also dass das die Normalität ist. Denn wie gesagt, es ist für 20 Prozent der Kinder in Deutschland nicht der Fall. Und ja, da ich glaube, ja sehr wichtig Bewusstsein schaffen für die Lebenswelten anderer Menschen. Definitiv.
Albert: Dann die letzte Frage, bevor du auch gleich los musst. Du hast von dem Zwillingsbruder gesprochen.
Jeremias: Genau. Ja.
Albert: Wie geht’s dem heute?
Jeremias: Ja, man muss dazu sagen, dass mein Zwillingsbruder eine völlig andere Person ist als ich. Also mein Bruder hatte nach der 9. Klasse die Schule fertig gemacht. Also ging nach der neunten, hatte eine besondere Berufsreife aufgrund seiner Lernschwäche, die er hat. Nicht Lernschwäche, Entschuldigung, ADHS, genau. Aber das kommt natürlich schon ein bisschen mit dem einen oder anderen einher. Ich bin jetzt kein Mediziner, aber genau quasi nach der 9. Klasse, hat er auf der Schule, auf der er war, aufgehört. Ist direkt zu meinen Eltern zurück, hat dort für drei Jahre gelebt, also von 15 bis 18 und ja, es ist schon sehr, sehr deprimierend, weil es ist mein Zwillingsbruder und es ist schon absurd zu sehen, wo ich jetzt stehe im Leben und wo mein Bruder steht im Leben. Mein Bruder arbeitet für eine Leiharbeitsfirma, verdient 1.000 Euro, 1.200 Euro. Er ist jetzt in Kurzarbeit und er lebt jetzt mit seiner Freundin zusammen. Und man muss dazu sagen, dass mein Bruder die Familie verlassen hat, weil jeweils natürlich keine Unterstützung geboten werden kann. Jetzt ist er halt in dieser Familie seiner Freundin und findet da so ein bisschen Halt und Struktur. Aber ja, wenn ich so ein bisschen an die Zukunft denke und an das, was die, wenn ich jetzt mal an uns in 20 Jahren denk, es ist schon nicht immer schön, weil man merkt, mein Bruder wurde sehr geprägt von meinen Eltern und von seinen Entscheidungen und es ist schon nicht einfach. Also das ist wahrscheinlich so ein bisschen die größte Last, die ich noch immer mit mir trage, weil es mein Bruder ist, es ist ein Mensch, den ich sehr lieb hab und mit dem ich leider, wenn auch nur 8 Jahre in meinem Leben verbringen durfte. Aber das ist schon irgendwie hart. Es ist nicht einfach.
Albert: Es ist aber sehr interessant zu sehen, wie ihr, die am gleichen Tag zur Welt kamt, so zwei völlig verschiedene Wege auch einschlagt. Und wie du sagst, es kann dich eine lange Zeit über auch mitprägen. Es kann natürlich sein, dass du ja, dass du für ihn sorgen werden muss, so wie du damit angefangen hast.
Jeremias: Ich meine ganz kurz, da ist schon in Teilen schon jetzt, so, dass ich manchmal finanziell unterstütze, weil es mir einfach wirtschaftlich auch gut geht. Mir gehts jetzt nicht schlecht oder wie auch immer. Und wenn es schon absurd, manchmal, wenn man seinen eigenen Bruder finanziell unterstützt, wenn es mal hart auf hart kommt. Aber ganz im Ernst es mangelt mir irgendwie an nichts. Im Grunde genommen denke ich, wenn man unterstützen kann, dann sollte man das tun. Insgesamt heißt es für mich, Privilegien zu besitzen, die ich mittlerweile einfach besitze. Heißt, dass du auch die Möglichkeiten benutzt, die du bekommst aufgrund deiner Privilegien, um andere Menschen zu unterstützen, zu helfen, wie auch immer. Das ist so ein bisschen eine ganz wichtige Grundphilosophie von mir: unterstütze, wenn du kannst.
Albert: Spricht sehr für dich, dass du das so siehst und dass sagen wir mal ja Bildung keine Grenze darstellen muss. Das macht es schon von Haus aus oft. Aber man kann auch entgegenwirken und das hast du gerade sehr, sehr schön ausgedrückt. Wie alt bist du jetzt?
Jeremias: Also ich würde schon sagen, ich bin jetzt 19, aber ich werde in weniger als einem Monat 20. Also bin jetzt, ich bin noch 19, aber bald 20.
Albert: Dir zuzuhören macht einfach Spaß. Weil ich hab das Gefühl, ich rede mit einem 40-jährigen.
Jeremias: Ach echt?
Albert: Ja, es ist einfach von der, klar, absolut. Also manchmal absolut, ja. Behalte das bei. Ich glaube, solche Menschen braucht das Land. Jeremias, vielen Dank dir, dass du dir die Zeit genommen hast, du dir die Zeit genommen hast mit Blick auf die Uhr sehe ich jetzt auch schon, dass einige Zeit ins Land gegangen ist und wir können das gerne mal fortsetzen.
Jeremias: Ich hätte so Lust.
Albert: Auf jeden Fall danke ich dir, dass du, dass du die Geschichte mal ein bisschen aufgegliedert hast und auch für die Meminto Stories Hörer ein bisschen klargemacht hat, dass eine Änderung möglich ist, wenn man es will und wenn man die Begabungen nutzt, die einem auch ans Herz gelegt wurden. Dann kann man da rauskommen und du arbeitest dich gerade hoch. Und das erstaunt mich. Und das freut mich so sehr für dich, dass du diesen Sprung auch mithilfe von anderen natürlich geschafft hast und, dass du auch nicht zu stolz warst, Hilfe in Anspruch zu nehmen und dass du gesagt hast: Das hilft mir. Freut mich sehr.
Jeremias: Jeder Mensch und habe jetzt noch kurz 5 bis 10 Minuten. Also no problem. Aber was ich sagen wollte, ist, dass ich glaube, dass diese Philosophie vor allem in freien Marktwirtschaften oder der sozialen Marktwirtschaft wie auch in Deutschland so Survival of the fittest. Also ein bisschen so diese darwinistische Kultur, dass man es alleine schafft, dass man Leute hinter sich lässt. Das ist nicht die Realität. Ich glaube, jeder, so wie du auch. Du warst bestimmt auch mal in einer Phase, wo du auch mal Unterstützung brauchtest. Vielleicht auch emotional von der Familie, von der Frau und den Kindern. Es ist völlig normal, dass jeder Mensch mal Unterstützung braucht im Leben. Ich bin sehr dankbar für die Unterstützung, die ich meinem Leben bekommen habe und finde es aber zeitgleich wichtig, dass ich daraus auch eine Verantwortung ziehe und sag: Ich werde mal selbst ein Kind mentoren, was jetzt vielleicht nicht so dieses Backup hat, wie das vielleicht für andere Kinder der Fall ist und dass man so eine gewisse Verantwortung übernimmt, weil man einfach merkt, wir sind alle mal irgendwann auf andere Menschen angewiesen und irgendwann werden wohl Menschen auf mich angewiesen sein und dann kommt meine Rolle und dann helfe ich mal aus, wenn es mal dazu kommt.
Albert: Das war ein super Schlusswort. Vielen Dank dir dafür. Ja, das war Jeremias Thiel und er hat den Absprung geschafft. Er ist aus einer strukturschwachen Familie sozusagen ausgebrochen und ist jetzt in den USA, studiert dort und hat einiges vor sich. Und dabei wünschen wir von Meminto Stories viel Glück.