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Unser trügerisches Gedächtnis
Mal angenommen, Sie und ich sind Gäste einer Hochzeitsgesellschaft.
Wir sitzen im gleichen Raum, gehen aber möglicherweise mit völlig unterschiedlichen Erinnerungen an diese Hochzeit nach Hause. Sie erleben eine wunderbare Feier, ich eine zunehmend größer werdende Laufmasche in meiner Strumpfhose, die mein festliches Outfit ruiniert und mir deshalb gehörig die Feier-Laune verdirbt. Irgendwas ist ja immer.
Während Sie sich also glänzend amüsieren, die Tische wechseln, um sich zu unterhalten, tanzen und feiern wie schon lange nicht mehr, sitze ich verkrampft am Platz, verstecke meine Laufmaschen-Beine unterm Tisch und hoffe, dass niemand mein Malheur bemerkt.
Wer von uns beiden wird sich später besser an diese Feier erinnern?
Keine Frage: Ich! Sie werden mit den schöneren Erinnerungen nach Hause fahren, aber mir bleibt sie dafür länger im Gedächtnis, weil ich mich so (über mich selbst) geärgert habe.
Bad news are good news – dass schlechte Nachrichten gut fürs Geschäft sind, ist keine Erfindung von Zeitungsmachern und Nachrichtenredaktionen.
Die nutzen lediglich den Umstand aus, dass wir uns von schlechten Nachrichten und Erfahrungen stärker beeindrucken lassen als von Guten, und sie uns zu allem Überfluss auch noch besser merken können.
Unser gutes Gedächtnis für Schlechtes ist ein Erbe, das wir genau wie den Blinddarm und die Achselhaare den Rückständen unserer Evolution zu verdanken haben: Dass Säbelzahntiger bissig sind und welche Beeren man auf gar keinen Fall essen sollte, war für unsere Urahnen in der Frühgeschichte der Menschheit die (überlebens-)wichtigere Nachricht im Vergleich zu den guten Neuigkeiten.
Unser Gedächtnis ist also bei weitem nicht so objektiv und sortiert, wie wir’s gerne hätten.
In der Vorstellung der meisten Menschen ist das Gedächtnis eine Art Kommode im Kopf, in deren Schubladen wir unsere Erinnerungen sauber gefaltet und wohlgeordnet stapeln, bis wir sie brauchen und wieder hervorkramen. Dem ist aber nicht so.
Der Haken an der Vorstellung von „objektiven“ und unveränderbaren Erinnerungen ist, dass sie nicht stimmt.
Warum wir unseren Erinnerungen manchmal nicht trauen sollten
Den positiven Erfahrungen in unserem Leben schenken wir also prinzipiell weniger Aufmerksamkeit und außerdem vergessen wir sie schneller wieder.
Deswegen bleibt uns die Familienfeier, bei dem der Kellner das Tablett mit dem Dessert fallengelassen hat, Opas Hosennaht geplatzt ist oder ein Regenschauer sich über die Hochzeitsgesellschaft ergossen hat, nachdem endlich alle fürs Foto aufgestellt waren, viel besser im Gedächtnis als Feste, bei denen alles glatt gelaufen ist.
Wie wir uns erinnern und was wir aus unserem Gedächtnis abrufen können, hängt allerdings nicht nur von unserer Stimmung damals ab, sondern auch von unserer Gemütslage in dem Moment, in dem wir uns erinnern: Sind wir gut drauf, fallen uns vor allem schöne Momente und lustige Begebenheiten ein, ist unsere Stimmungslage dagegen eher umwölkt, quillt plötzlich viel Unangenehmes aus unseren Erinnerungs-Schubladen.
Unser Gedächtnis ist also nicht nur wandelbar – plastisch –, sondern hat auch noch eine Tagesform.
Ein interessantes Experiment, wie wir unsere Erinnerungen je nach Stimmung einfärben und gewichten, hat der italienische Psychiater Giovanni Fava durchgeführt.
Fava bat einige seiner Patienten, die bei ihm wegen Depressionen in Behandlung waren, ein „Glückstagebuch“ über die schönen Momente in ihrem Leben zu führen. Die meisten seiner Patienten reagierten erstmal verblüfft, weil sie vermuteten, dass sie wegen ihrer Erkrankung keine schönen Momente hätten.
Sie hatten aber, wie ihre Glückstagebücher eindeutig bewiesen.
Ein Patient berichtete beispielsweise, wie glücklich er war, dass sich seine Familie so sehr über seinen Besuch gefreut hatte. Dieses Glück zerstörte er allerdings im nächsten Moment selbst mit dem Gedanken „sie freuen sich nur über die Geschenke, die ich mitgebracht habe“.
Positive Erinnerungen muss man auch zulassen (können).
Familienbiografie: Gemeinsam macht es mehr Spaß
Gemeinsame Erlebnisse und Erinnerungen sind der Super-Klebstoff, der Familien, Freundschaften und Paare zusammenhält.
Wir halten unsere Erinnerungen aus guten Gründen wach, denn sie verbinden uns noch mehr miteinander und schenken uns besonders während stressiger Lebensphasen Geborgenheit, weil sie uns daran erinnern, dass wir nicht allein auf dieser Welt sind.
Unsere Erinnerungen an ein und dasselbe Erlebnis können allerdings wie wir gesehen haben wegen der Plastizität unseres Gedächtnisses voneinander abweichen, was immer wieder zu heißen Diskussionen führt, sobald man zusammensitzt und versucht, ein gemeinsames Erlebnis zu rekapitulieren:
„An Heiligabend 2009 gab es wie immer Gänsebraten!“
– „Ne, Gans war aus, deshalb gab’s Ente!“
– „Quatsch, wir wollten in dem Jahr kürzertreten. Es gab Würstchen mit Kartoffelsalat!“
Machen Sie gerne die Probe aufs Exempel und lassen Sie Familie, Freunde oder sonstige Lieblingsmenschen vom Heiligabend 2018 oder dem letzten großen Familienevent vor Corona erzählen.
Sie werden erstaunt sein, was an diesem Tag oder Abend alles passiert sein soll, und sich vielleicht irgendwann fragen, ob Sie überhaupt dabei gewesen sind.
Diese Abweichungen in unseren – gemeinsamen – Erinnerungen sind aber nicht nur Zündstoff für Diskussionen, sondern können auch ein wunderbarer Aufhänger für neue schöne Erlebnisse und Erinnerungen sein. Beispielsweise indem man sie nutzt, die gemeinsame Geschichte nicht nur zu erzählen, sondern auch aufzuschreiben.
Gerade in einer Zeit, in der viele Treffen und Feiern ins Wasser fallen (müssen), kann das Projekt „Wir schreiben unsere Geschichte auf“ Familien und Freunde enger zusammenrücken lassen und wieder mehr miteinander ins Gespräch bringen.
Dass wir uns alle unterschiedlich an ein und dasselbe Ereignis erinnern, ist dabei kein Hindernis, sondern ganz im Gegenteil ein Teil des Spaßes, den alle Beteiligten daran haben:
- Am besten funktioniert das gemeinsame Projekt „Wir schreiben unsere Geschichte auf“, wenn sich alle, die mitmachen wollen, in regelmäßigen Abständen treffen.
Im Moment natürlich online, wobei das auch für normale Zeiten eine gute Lösung ist, weil dann auch der Onkel in Australien und die Tante aus Wiesbaden problemlos dabei sein können. - Weil unser Gedächtnis bekanntlich seine eigene Vorstellung von Wahrheit entwickelt, werden mit Sicherheit während der Treffen via Zoom (oder einer anderen Plattform) sehr unterschiedliche Darstellungen von ein und demselben Ereignis die Runde machen.
Um die Frage, wie es wirklich war, klären zu können, gibt es als Hausaufgabe für alle deshalb „Fotos suchen und sortieren“. Sollte dann ein Foto von Weihnachten 2009 auftauchen, auf dem im Hintergrund deutlich die Schüssel mit dem Kartoffelsalat zu erkennen ist, dürfte die Diskussion darüber geklärt und vom Tisch sein. - Bitte denken Sie daran: Eine Handvoll schöner Fotos bringt für Ihre Erinnerungen (und die Ihrer Lieben) mehr als tausend unsortierte Bilder auf dem Handy oder dem Speicherchip Ihrer Kamera. Nehmen Sie sich deshalb möglichst regelmäßig Zeit, um Ihre Fotos zu sortieren, die schönsten auszuwählen und zu zeigen.
- Tagebücher – oder modern: Journals – sind eine weitere Quelle, die viel objektiver ist als unsere Erinnerungen: Was man damals vielleicht kurz nach einem wichtigen Ereignis aufgeschrieben hat, steht schwarz auf weiß da und kann nicht nachträglich von unserem trügerischen Gedächtnis eingefärbt oder verändert werden.
- Ebenso wertvoll sind Hochzeitszeitungen, Gästebücher, Kladden mit Zitaten, aber auch alte Familienrezepte, Anekdoten und die Lieblingssprüche, die Opa oder Tante Emma immer in bestimmten Situationen zum Besten gegeben haben.
Welche Themen Sie aufgreifen und mit welchen Menschen Sie Ihr Projekt teilen – zu zweit mit der besten Freundin oder in der großen Familienrunde – bestimmen Sie. Es wird viel zum Lachen geben, manchmal vielleicht auch zum Weinen. Sie werden viel Gesprächsstoff miteinander haben, sich näher kommen – und vielleicht Ihre gemeinsame Geschichte aus einer völlig neuen Perspektive kennenlernen.
Ich wünsche Ihnen viel Freude dabei!
Dr. Susanne Gebert arbeitet seit 2013 als selbständige Biografin und Ghostwriterin und bloggt auf www.generationen-gespräch.de über Psychologie, Geschichte, Kindheit und Erziehung
Bildnachweis: Agentur für Bildbiographien Dr. Susanne Gebert