Flucht aus Ostpreußen
Schier endlos schob sich der Flüchtlingstreck aus Ostpreußen Richtung Ostsee. Wer konnte, ging zu Fuß, wer nicht mehr konnte, fuhr auf einem dieser klapperigen Leiterwagen, die von kräftigen Pferden gezogen wurden. Hunderttausende mussten ihre Häuser und Wohnungen aus Furcht vor den russischen Soldaten verlassen, in der Hoffnung, den Hafen von Pillau zu erreichen. Dort sollten im Januar 1945 unzählige Schiffe die Flüchtenden aufnehmen und in sichere Gebiete bringen.
Auch der 14jährige Rudolf, den alle nur Rudi nannten, trottete hungrig und frierend hinter so einem Leiterwagen, auf dem sich seine Mutter und seine Schwestern befanden, her. Der Vater war zurückgeblieben, um mit einer armseligen Truppe und wenigen Soldaten gegen die rote Armee irgendwie noch Widerstand zu leisten – hoffnungslos.
Immer wieder musste Rudi an sein Zuhause denken, an die warme Stube, an die Schule, an seine Familie und an seine Freunde. Alles mussten sie zurücklassen, bis auf ein paar Sachen, die sich auch auf diesem Leiterwagen vor ihm befanden. Rudi hätte damals niemals gedacht, dass seine Lebensgeschichte fernab der Heimat, die er nie wiedergesehen hat, fortgesetzt würde.
Schreiende Kinder, schweigsame Erwachsene und zwei einzelne Stiefel
Die Erinnerung an diese Flucht hat sich bei Rudi eingebrannt. Diese schweigende Masse an Erwachsenen, die Schreie der kleinen Kinder, die erfrorenen Menschen am Wegesrand, die Kommandos der Soldaten, die den Treck begleiten und schützen sollten. Als wenn die etwas gegen die russische Übermacht hätten ausrichten können.
Später hat Rudi oft von dieser Flucht erzählt. Wie er diesen gut erhaltenen Stiefel gefunden hat und ihn kilometerweit mitgeschleppt hat, in der Hoffnung, auch noch den zweiten zu finden. Aus so einem Paar Stiefel konnte man schon richtig was machen in der damaligen Zeit. Aber als er nach über drei Stunden keinen zweiten Stiefel gefunden hat, hat er die Hoffnung aufgegeben und den Stiefel wieder weggeworfen. Was sollte er mit einem einzelnen Stiefel?
Umso mehr hat er sich geärgert, als er nach einer weiteren Stunde plötzlich am Wegesrand den zweiten Stiefel fand. Aber umkehren ging natürlich nicht, und vermutlich hatte irgendjemand den ersten Stiefel längst gefunden und schleppte ihn jetzt mit, in der Hoffnung, den zweiten Stiefel auch noch zu finden.
Im eiskalten Wasser dem Tod so nah
Irgendwie hatten es Rudi, seine Mutter und seine Schwestern bis zum Hafen Pillau geschafft. Dort standen sie jetzt mit tausenden Leidensgenossen, die alle darauf hofften, einen Platz auf einem der Schiffe zu ergattern, die sie in Sicherheit bringen sollten. Unvergesslich für Rudi war der Moment, als in dem dichten Gedränge plötzlich ein Mensch den Halt verlor und in das eiskalte Hafenwasser stürzte.
Ohne zu zögern – und vor allem, ohne an sich selbst zu denken – sprangen zwei Soldaten hinterher, um den verunglückten Mann aus dem Wasser zu ziehen. Zwei fremde Soldaten, die plötzlich Teil der Lebensgeschichte dieses Mannes wurden. Ihr Mut und ihre Selbstlosigkeit hatten Rudi nachhaltig tief beeindruckt und er hat diese Geschichte seinen Kindern immer wieder erzählen müssen.
Neuanfang in Hannover
Irgendwann, nach einer beschwerlichen Reise auf einem völlig überfüllten Schiff und ebenso völlig überfüllten Zügen, landete Rudi bei einem Hufschmied in Hannover, während seine Mutter und seine beiden Schwestern in Münster bei Familien unterkamen. Um sich Unterkunft und Lebensunterhalt zu verdienen, konnte Rudi in der Schmiede mitarbeiten. Aber leider nur bis zu dem Augenblick, der sein Leben völlig veränderte.
Reibekuchen – beinahe mit dem Leben bezahlt
Mit einigen Kumpels hatten sie beschlossen, Reibeplätzchen zu essen. Irgendwer hatte die Kartoffeln besorgt, und irgendwer das Öl. Das verhängnisvolle Öl. Denn als Rudi irgendwann im Krankenhaus aufwachte, mussten ihm die Ärzte eine traurige Mitteilung machen. Das Öl sei wohl giftig gewesen und hatte bei Rudi zu einer schweren Lebensmittelvergiftung geführt, in deren Folge beide Beine irreparabel gelähmt blieben. Das war ein Schlag für einen jungen Menschen, der gehofft hatte, nach den langen Kriegsjahren endlich durchstarten zu können, eine Ausbildung zu machen, eine Familie zu gründen…. Alle Träume zerstieben wie eine Seifenblase.
Eine lustige Truppe von körperlich Behinderten
Diese unerwartete Wendung in seinem Leben führte Rudi nach unzähligen Krankenhausaufenthalten, Behandlungen und Therapien – soweit das in der Nachkriegszeit möglich war – schließlich nach Volmarstein in eine Einrichtung für körperlich Versehrte. Dort konnte er wohnen und eine Ausbildung zum Orthopädie-Mechaniker machen.
Rudi hat später viel über diese Zeit berichtete, und es muss eine wirklich schöne Zeit in seinem Leben gewesen sein. Denn er hatte viele Freunde in der Einrichtung gefunden, die alle ein gemeinsames Schicksal teilten, das einer körperlichen Einschränkung. Dem einen fehlte ein Arm, der nächste saß im Rollstuhl. So waren sie als Truppe zusammengestellt, jeder mit einer besonderen Lebensgeschichte.
Eine Gruppe junger Männer, die zwar einerseits bemitleidenswert waren, die aber andererseits das beste aus der Situation machten. Sie ergänzten sich hervorragend, was der eine nicht konnte, war dem anderen möglich. Richtig Spaß haben sie damals gehabt, viel Freizeit miteinander verbracht, lange Abende zusammengesessen und viele Gesellschaftsspiele gemacht.
Johanna, die Frau fürs Leben
Natürlich zogen damals auch die Dorfschönheiten die Blicke von Rudi und seiner lustigen Truppe auf sich. Man kam sich näher, und irgendwann war es um Rudi geschehen. Er hatte sich in Johanna verliebt, eine Dorfbewohnerin, die in Einrichtung ihre Ausbildung zur Schneiderin machte. Auch Johanna war nicht abgeneigt, und aus Zuneigung wurde Liebe, die ein Leben lang hielt.
Wieder einmal nahm Rudis Leben eine Wendung, diesmal aber zum Guten. Mit Johanna hat er eine Familie gegründet und vier Söhne und drei Töchter bekommen. Das war schon eine Herausforderung für einen Mann mit dieser körperlichen Beeinträchtigung. Aber mit Hilfe von Johanna wurden viele Klippen umschifft.
Oft haben die beiden an langen Winterabenden den Kindern davon erzählt, wie das damals so war, als Rudi und seine Freunde auf der Lauer lagen, wenn die Mädels aus dem Dorf spazieren gingen und so taten, als hätten sie die jungen Herren nicht bemerkt. Aber besonders gern hörten die Kinder die alten Geschichten aus Ostpreußen, von der unvorstellbaren Kälte, der Weite des Landes, der Gemütlichkeit auf dem Gutshof, auf dem Rudi aufgewachsen ist und vor allem natürlich von den spannenden Tagen der Flucht, dem wohl markantesten Teil von Rudis Lebensgeschichte.
Schwere Schicksalsschläge
Später musste Rudi leider noch weitere Schicksalsschläge hinnehmen. Der jüngste Sohn der Familie wurde mit zehn Jahren von einem Auto überfahren, eins der Enkelkinder starb in seinem Bettchen und ein zweiter Sohn von Rudi und Johanna verstarb im Alter von 34 Jahren plötzlich an einem Herzinfarkt. Die beiden haben alles still und mit Gottvertrauen ertragen. Im Alter von nur 66 Jahren verstarb Rudi nach einem schweren Krebsleiden. Ein Leben mit Höhen und Tiefen ging zu Ende.
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Rudis Lebensgeschichte reicht für ein ganzes Buch
Die Kinder sprechen heute noch von den Geschichten, die ihr Vater Rudi ihnen immer wieder erzählt hat. Vieles gerät natürlich in Vergessenheit, was sehr schade ist. Oft haben sie gesagt, dass ihr Vater alles besser mal aufgeschrieben hätte. Das geht nun leider nicht mehr. Und auch die alten Fotos kann kaum noch jemand zuordnen.
Was wäre es schön, wenn es heute ein Buch über Rudis Lebensgeschichte gäbe. Wenn man die alten Geschichten nochmal nachlesen könnte und wenn die alten Bilder entsprechend beschriftet wären. Dann könnte man die alte Zeit in die nächste Generation tragen, eine Generation, die nicht nachvollziehen kann, dass man bei 20° minus hinter einem Pferdefuhrwerk hertrottet, Hunger und Durst hat und nicht weiß, wo man die nächste Nacht verbringt.