{"id":4103,"date":"2020-12-09T11:50:52","date_gmt":"2020-12-09T10:50:52","guid":{"rendered":"https:\/\/meminto.com\/de\/?p=4103"},"modified":"2024-07-25T14:27:26","modified_gmt":"2024-07-25T12:27:26","slug":"zwischenfall-im-huertgenwald-eine-weihnachtsgeschichte","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/meminto.com\/de\/blog\/zwischenfall-im-huertgenwald-eine-weihnachtsgeschichte\/","title":{"rendered":"Zwischenfall im H\u00fcrtgenwald \u2013 Eine Weihnachtsgeschichte"},"content":{"rendered":"\t\t
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Am Heiligen Abend 1944, mitten in der Ardennenschlacht<\/a>, hatten Mutter und ich unerwartete G\u00e4ste.<\/strong><\/p>

Als es an diesem Weihnachtsabend an der T\u00fcr klopfte, ahnten Mutter und ich nichts von dem Wunder, das wir erleben sollten.<\/p>

Ich war damals zw\u00f6lf, und wir lebten in einem kleinen H\u00e4uschen in den Ardennen, nahe der deutsch-belgischen Grenze. Vater hatte das H\u00e4uschen vor dem Krieg ben\u00fctzt, wenn er an Wochenenden auf die Jagd ging; und als unsere Heimatstadt Aachen immer st\u00e4rker unter Luftangriffen zu leiden hatte, schickte er uns dorthin. Ihn selbst hatte man in der sechs Kilometer entfernten Grenzstadt Monschau zum Luftschutzdienst eingezogen.\u00a0\u00bbIn den W\u00e4ldern seid Ihr sicher\u00ab, hatte er zu mir gesagt.\u00a0<\/span>\u00bbPass gut auf Mutter auf. Du bist jetzt ein Mann.\u00ab<\/span><\/p>\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t

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Aber\u00a0\"Soldat\" <\/picture>vor einer Woche hatte Generalfeldmarschall von Rundstedt mit der letzten, verzweifelten deutschen Offensive dieses Krieges begonnen, und w\u00e4hrend ich jetzt zur T\u00fcr ging, tobte ringsum die Ardennenschlacht.<\/p>

Als es klopfte, blies Mutter rasch die Kerzen aus. Dann ging sie vor mir zur T\u00fcr und stie\u00df sie auf. Drau\u00dfen standen, vor dem gespenstischen Hintergrund der verschneiten B\u00e4ume, zwei M\u00e4nner mit Stahlhelmen. Der eine redete Mutter in einer Sprache an, die wir nicht verstanden, und zeigte dabei auf einen dritten, der im Schnee lag. Sie begriff schneller als ich, dass es sich um Amerikaner handelte.\u00a0Feinde!<\/em><\/p>\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t

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\"Soldat\" <\/picture>Mutter stand, die Hand auf meiner Schulter, schweigend da, unf\u00e4hig,\u00a0sich zu bewegen. Die M\u00e4nner waren bewaffnet und h\u00e4tten sich den Eintritt erzwingen k\u00f6nnen, aber sie r\u00fchrten sich nicht und baten nur mit den Augen. Der Verwundete schien mehr tot als lebendig. \u00bbKommt rein\u00ab, sagte Mutter schlie\u00dflich. Die Soldaten trugen ihren Kameraden ins Haus und legten ihn auf mein Bett.<\/p>

Keiner von ihnen sprach Deutsch. Mutter versuchte es mit Franz\u00f6sisch, und in dieser Sprache konnte sich einer der M\u00e4nner einigerma\u00dfen verst\u00e4ndigen. Bevor Mutter sich des Verwundeten annahm, sagte sie zu mir: \u00bbDie Finger der beiden sind ganz steif. Zieh ihnen die Jacken und die Stiefel aus und bring einen Eimer Schnee herein.\u00ab Kurz darauf rieb ich ihnen die blaugefrorenen F\u00fc\u00dfe mit Schnee ab.<\/p>\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t

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Der Untersetzte, Dunkelhaarige, erfuhren wir, war Jim. Sein Freund, gro\u00df und schlank, hie\u00df Robin. Harry, der Verwundete, schlief jetzt auf meinem Bett, mit einem Gesicht so wei\u00df wie drau\u00dfen der Schnee. Sie hatten ihre Einheit verloren und irrten seit drei Tagen im Wald umher, auf der Suche nach den Amerikanern, auf der Hut vor den Deutschen. Sie waren unrasiert, sahen aber, ohne ihre schweren M\u00e4ntel, trotzdem aus wie gro\u00dfe Jungen. Und so behandelte Mutter sie auch.\u00a0\u00bbGeh, hol Hermann\u00ab, sagte Mutter zu mir. \u00bbUnd bring Kartoffeln mit.\u00ab<\/span><\/p>\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t

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Das war eine einschneidende \u00c4nderung in unserem Weihnachtsprogramm<\/a>. Hermann war ein fetter Hahn (benannt nach Hermann G\u00f6ring, f\u00fcr den Mutter nicht viel \u00fcbrig hatte), den wir seit Wochen m\u00e4steten, in der Hoffnung, Vater werde Weihnachten zu Haus sein. Und als es uns vor einigen Stunden klargeworden war, dass er nicht kommen w\u00fcrde, hatte Mutter gemeint, Hermann solle noch ein paar Tage am Leben bleiben, f\u00fcr den Fall, dass Vater zu Neujahr kam. Nun hatte sie sich wieder anders besonnen. Hermann sollte jetzt gleich eine dringende Aufgabe erf\u00fcllen.<\/p>

W\u00e4hrend Jim und ich in der K\u00fcche halfen, k\u00fcmmerte sich Robin um Harry, der einen Schuss in den Oberschenkel abbekommen hatte und fast verblutet<\/a> war. Mutter riss ein Laken in Streifen zum Verbinden der Wunde.<\/p>\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t

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Bald zog der verlockende Duft von gebratenem Hahn durch das Zimmer. Ich deckte gerade den Tisch, als es wieder klopfte. In der Erwartung, noch mehr verirrte Amerikaner zu sehen, \u00f6ffnete ich ohne Z\u00f6gern die T\u00fcr. Drau\u00dfen standen 4 M\u00e4nner in Uniformen, die mir nach f\u00fcnf Jahren Krieg wohlvertraut waren: deutsche Soldaten \u2013\u00a0unsere!<\/p>

Ich war vor Schreck wie gel\u00e4hmt. Trotz meiner Jugend kannte ich das Gesetz: Wer feindliche Soldaten beherbergt, begeht Landesverrat. Wir konnten alle erschossen werden! Mutter hatte auch Angst. Ihr Gesicht war wei\u00df, aber sie trat hinaus und sagte ruhig: \u00bbFr\u00f6hliche Weihnachten!\u00ab Die Soldaten w\u00fcnschten ihr ebenfalls eine frohe Weihnacht.\u00a0\u00bbWir haben unsere Einheit verloren und m\u00f6chten gern bis Tagesanbruch warten\u00ab, erkl\u00e4rte der Anf\u00fchrer, ein Unteroffizier. \u00bbK\u00f6nnen wir bei Ihnen bleiben?\u00ab\u00a0<\/span><\/p>

\u00bbNat\u00fcrlich\u00ab, erwiderte Mutter mit der Ruhe der Verzweiflung. \u00bbSie k\u00f6nnen auch eine gute, warme Mahlzeit haben und essen, solange etwas da ist\u00ab<\/span><\/p>\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t

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\"Kriegsfeld\" <\/picture>Die Soldaten l\u00e4chelten, vergn\u00fcgt den Duft schnuppernd, der ihnen durch die halboffene T\u00fcr entgegenschlug. \u00bbAber\u00ab, fuhr Mutter energisch fort, \u00bbwir haben noch drei G\u00e4ste hier, die Sie vielleicht nicht als\u00a0Freunde ansehen werden<\/em><\/a>.\u00ab Ihre Stimme war mit einem mal so streng, wie ich sie noch nie geh\u00f6rt hatte. \u00bbHeute ist Heiliger Abend, und hier wird nicht geschossen.\u00ab\u00a0<\/p>

\u00bbWer ist drin?\u00ab, fragte der Unteroffizier barsch,\u00a0 \u00bbAmerikaner?\u00bb<\/span><\/p>\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t

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Mutter sah jedem einzelnen in das frosterstarrte Gesicht. \u00bbH\u00f6rt mal\u00ab, sagte sie langsam. \u00bbIhr k\u00f6nntet meine S\u00f6hne sein, und die da drin auch. Einer von ihnen ist verwundet und ringt um sein Leben. Und seine beiden Kameraden: verirrt und hungrig und m\u00fcde wie Ihr. In dieser Nacht\u00ab, sie sprach jetzt zu dem Unteroffizier und hob die Stimme, \u00bbin dieser Heiligen Nacht denken wir nicht an T\u00f6ten!\u00ab<\/p>

Der Unteroffizier starrte sie an. F\u00fcr zwei, drei endlose Sekunden herrschte Schweigen. Dann machte Mutter der Ungewissheit ein Ende. \u00bbGenug geredet!\u00ab sagte sie und klatschte in die H\u00e4nde. \u00bbLegen Sie Ihre Waffen da auf das Holz \u2013\u00a0und machen Sie schnell, sonst essen die anderen alles auf.\u00ab<\/p>

Die vier Soldaten legten wie benommen ihre Waffen auf die Kiste mit Feuerholz im Gang: zwei Pistolen, drei Karabiner, ein leichtes MG und zwei Panzerf\u00e4uste. Mutter sprach indessen hastig mit Jim auf Franz\u00f6sisch. Er sagte etwas auf Englisch, und ich sah verwundert, wie auch die Amerikaner Mutter ihre Waffen gaben.<\/p>\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t

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Als nun die Deutschen und die Amerikaner Schulter an Schulter verlegen in der kleinen Stube standen, war Mutter in ihrem Element. L\u00e4chelnd suchte sie f\u00fcr jeden einen Sitzplatz. Wir hatten nur drei St\u00fchle, aber Mutters Bett war gro\u00df. Dorthin setzte sie zwei der sp\u00e4ter Gekommenen neben Jim und Robin.\u00a0Dann machte sie sich, ohne von der gespannten Atmosph\u00e4re Notiz zu nehmen, wieder ans Kochen. Aber Hermann wurde ja nun nicht mehr gr\u00f6\u00dfer, und wir hatten vier Esser mehr. \u00bbRasch\u00ab, fl\u00fcsterte sie mir zu, \u00bbhole noch ein paar Kartoffeln und etwas Haferflocken. Die Jungen haben Hunger, und wenn einem der Magen knurrt, ist man reizbar.\u00ab<\/span><\/p>

W\u00e4hrend ich die Vorratskammer pl\u00fcnderte, h\u00f6rte ich Harry st\u00f6hnen. Als ich zur\u00fcckkam, hatte einer der Deutschen eine Brille aufgesetzt und beugte sich \u00fcber die Wunde des Amerikaners. \u00bbSind Sie Sanit\u00e4ter?\u00ab fragte Mutter. \u00bbNein\u00ab, erwiderte er, \u00bbaber ich habe bis vor wenigen Monaten in Heidelberg Medizin studiert.\u00ab Dann erkl\u00e4rte er den Amerikanern in, wie mir schien, recht flie\u00dfendem Englisch, Harrys Wunde sei dank der K\u00e4lte nicht infiziert. \u00bbEr hat nur sehr viel Blut verloren\u00ab, sagte er zu Mutter. \u00bbEr braucht jetzt einfach Ruhe und kr\u00e4ftiges Essen.\u00ab<\/p>\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t

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Der Druck begann zu weichen. Selbst mir kamen die Soldaten, als sie so nebeneinander sa\u00dfen, alle noch sehr jung vor. Heinz und Willi, beide aus K\u00f6ln, waren sechzehn. Der Unteroffizier war mit seinen Dreiundzwanzig der \u00e4lteste. Er brachte aus seinem Brotbeutel eine Flasche Rotwein zum Vorschein, und Heinz fand einen Laib Schwarzbrot, den Mutter in Scheiben schnitt. Sie sollten zum Essen auf den Tisch kommen. Von dem Wein aber stellte sie einen Rest beiseite. \u00bbF\u00fcr den Verwundeten.\u00ab<\/p>

Dann sprach Mutter das Tischgebet. Ich sah, dass sie Tr\u00e4nen in den Augen hatte, als sie die vertrauten Worte sprach: \u00bbKomm, Herr Jesus, sei unser Gast \u2026\u00ab Und als ich mich in der Tischrunde umsah, waren auch die Augen der kriegsm\u00fcden Soldaten feucht. Sie waren wieder Buben, die einen aus Amerika, die anderen aus Deutschland, alle fern von zu Haus.<\/p>\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t

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Gegen Mitternacht ging Mutter zur T\u00fcr und forderte uns auf, mitzukommen und den Stern von Bethlehem anzusehen. Bis auf Harry, der friedlich schlief, standen wir alle neben ihr, und f\u00fcr jeden war in diesem Augenblick der Stille und im Anblick des Sirius, des hellsten Sterns am Himmel, der Krieg sehr fern und fast vergessen.<\/p>

Unser privater Waffenstillstand hielt auch am n\u00e4chsten Morgen an. Harry erwachte, verschlafen brummelnd, in den letzten Nachtstunden, und Mutter fl\u00f6\u00dfte ihm etwas Br\u00fche ein. Bei Tagesanbruch war er dann sichtlich kr\u00e4ftiger. Mutter quirlte ihm aus unserem einzigen Ei, dem Rest Rotwein und etwas Zucker einen st\u00e4rkenden Trunk. Wir anderen a\u00dfen Haferflocken. Dann wurde aus zwei St\u00f6cken und Mutters bestem Tischtuch eine Tragbahre f\u00fcr Harry gemacht.<\/p>\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t

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Der Unteroffizier zeigte den Amerikanern, \u00fcber Jims Karte gebeugt, wie sie zu ihrer Truppe zur\u00fcckfinden konnten. In diesem Stadium des Bewegungskrieges erwiesen sich die Deutschen als \u00fcberraschend gut informiert. Er legte den Finger auf einen Bach.\u00a0\u00bbDa geht Ihr lang\u00ab, sagte er. \u00bbAm Oberlauf trefft Ihr auf die 1.\u00a0Armee, die sich dort neu formiert.\u00ab Der Mediziner \u00fcbersetzte alles ins Englische.\u00a0<\/span>\u00bbWeshalb nicht nach Monschau?\u00ab fragte Jim. \u00bbUm Himmels willen, nein!\u00ab rief der Unteroffizier. \u00bbMonschau haben wir wieder genommen.\u00ab<\/span><\/p>\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t

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\"Soldaten, <\/picture>Mutter gab nun allen ihre Waffen zur\u00fcck. \u00bbSeid vorsichtig, Jungens\u00ab, sagte sie. \u00bbIch w\u00fcnsche mir, da\u00df Ihr eines Tages dahin, zur\u00fcckkehrt, wo Ihr hingeh\u00f6rt, nach Hause. Gott besch\u00fctze euch alle!\u00ab Die Deutschen und die Amerikaner gaben einander die Hand, und wir sahen ihnen nach, bis sie in entgegengesetzter Richtung verschwunden waren.<\/p>\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t

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Als ich wieder ins Haus trat, hatte Mutter die alte Familienbibel hervorgeholt. Ich sah ihr \u00fcber die Schulter. Das Buch war bei der Weihnachtsgeschichte aufgeschlagen, bei dem Bericht von der Geburt in der Krippe und den drei Weisen, die von weither kamen, um ihre Geschenke darzubringen. Ihr Finger glitt \u00fcber die Zeile: \u00bb\u2026 und sie zogen \u00fcber einen anderen Weg wieder in ihr Land.<\/em>\u00ab<\/p>

Fritz Vincken, Rechte unbekannt<\/p>\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t

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